Das chinesische Rechtssystem: Ein Update

Das chinesische Rechtssystem unterliegt starken Veränderungen. Da war es an der Zeit zu fragen: Ist China bereits ein Rechtsstaat? Und möchte China überhaupt ein Rechtsstaat werden? Warum ist Rechtsstaatlichkeit überhaupt so wertvoll und was hat das mit Wirtschaftswachstum zu tun?

Darum ging es in der neuen Podcast-Folge „Ist China ein Rechtsstaat“ mit der Juristin Vanessa Egert. Sie arbeitete lange Zeit in Peking zum Thema der Förderung der Rechtsstaatlichkeit in China und berichtet darüber.

Das vollständige Transkript des Podcast findet ihr nun in diesem Blog-Beitrag.

Photo by Bill Oxford on Unsplash
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Podcast Transkript: Ist China ein Rechtsstaat?

Mit Vanessa Egert

Sabrina Weithmann: Herzlich willkommen im Chinalogue Podcast. Vanessa Egert, schön, dass du da bist!

Vanessa Egert: Ja, ich freue mich auch sehr, liebe Sabrina.

Sabrina: Dann starten wir auch direkt rein in unser Gespräch. Und zwar warst du ja für zwei Jahre in Peking. Kannst Du uns kurz erzählen, was du da eigentlich gemacht hast, und wie es überhaupt kam, dass du dort warst.

Vanessa: Ja, sehr gerne. Also, ich habe in Deutschland zunächst klassisch Jura studiert und in einer Kanzlei und in einem Unternehmen gearbeitet, mich aber immer schon sehr für internationale Arbeit interessiert. Ich habe auch im Rahmen meines Studiums drei Monate in China gelebt und in dem Projekt der Förderung von Rechtsstaatlichkeit in China mitgearbeitet. Und habe mich dann nach der ersten Berufserfahrung im juristischen Bereich wieder an dieses Projekt zurückerinnert und bin als Rechtsberaterin für zwei Jahre in das Rechtsprojekt in China der GIZ nach Peking gegangen.

Sabrina: Okay, da ergänze ich einfach nur kurz für die, die es nicht kennen: GIZ ist die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Ich bin es nämlich auch gewohnt, dass die Leute ganz gerne GEZ (V: Ja, das stimmt) verstehen und sich dann immer fragen, was die denn in China treiben.

Vanessa: Ja, das stimmt, die Frage muss ich mir auch oft stellen lassen, genau, die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, und die ist vertreten durch das Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und der Gesellschaftszweck der GIZ ist die Förderung der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung und in dessen Auftrag- man fördert in China, neben ganz vielen anderen Projekten-, die Bundesregierung auch die Rechtsstaatlichkeit in China.

Sabrina: Okay, und du hast da wann dann mitgearbeitet?

Vanessa: Von 2016 bis Ende 2018.

Sabrina: Jetzt wollten wir heute über den Rechtsstaat sprechen. Du hattest auch schon das Projekt zum Rechtsstaatsdialog erwähnt. Worum geht es denn da genau, und wie lange gibt es denn diesen Austausch schon?

Vanessa: Ja, also das Projekt oder- beziehungsweise Beratung im Rechtsbericht zu rechtlichen Themen, gibt es durch die GIZ bei den chinesischen Partnern eigentlich schon seit Mitte der 80er Jahre und 1994 wurde dann aber erstmalig ein eigenständiges Rechtsprogramm aufgesetzt und, ja, seitdem ist die GIZ im Auftrag der Bundesregierung im rechtlichen Reformprozess in China tätig und im Jahr 2000 hat die ganze Kooperation nochmal eine ganz neue Bedeutung gewonnen durch die Etablierung des deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialogs.

Der Rechtsstaatsdialog ist eine Maßnahme, die damals von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde, und es geht letztendlich um die Vereinbarung zur Zusammenarbeit im Rechtsbereich und einen Dialog zum Aufbau von Rechtsstaatlichkeit.

Die Entstehung des chinesischen Rechtssystems

Sabrina: Kannst du erklären, warum Rechtsstaatlichkeit so wichtig ist, wenn man auch wirtschaftlich wachsen möchte?

Vanessa: Ja, also das geht natürlich Hand in Hand. Direkt nach Gründung der Volksrepublik 1949, war es so, dass erstmalig alle Gesetze mit einem Federstrich als bourgeoise Unterdrückungsinstrumente außer Kraft gesetzt wurden. Und es folgte dann eine Zeit zwischen 1957 und 1978, in der die Gesetzgebung komplett zum Erliegen gekommen ist.

Während der Kulturrevolution von 66 bis 76 war der Gesetzgebungsbereich völlig eingestellt, und erst mit der Reform- und Öffnungspolitik ab 1978 von Deng Xiaoping setzte dann diese Phase der wirtschaftlichen Öffnung in China ein, und man merkte dann recht schnell, dass für Investitionen, für Wirtschaftswachstum auch ein funktionierendes Rechtssystem Voraussetzung und auch notwendig ist. Investoren, Unternehmen schließen Verträge, haben unter anderem auch Streitigkeiten, die geklärt werden müssen, und müssen sich auch darauf verlassen, dass sie ihre Rechte durchsetzen können. Das war zu dieser Zeit nicht der Fall.

Es gab einen Zustand der Gesetzlosigkeit und man hat erkannt, dass man sehr schnell gesetzgeberisch tätig werden muss, dort stand dann aber eigentlich Schnelligkeit mehr vor Qualität, muss man schon sagen, ja.

Sabrina: Das war dann anfangs auch so, dass China erst mal ausländische Gesetzgebung kopiert hat. Also, wenn ich mich erinnere, dann war das anfangs doch weitgehend eine Mischung aus dem deutschen Gesetz als auch dem japanischen. Aber erst mal mehr so, dass das Gesetz zwar existiert hat, aber die Umsetzung noch gefehlt hat. Bin ich da richtig?

Vanessa: Ja, also, China hat das eigentlich, wie auch in anderen Bereichen, so gemacht, dass man sich angeschaut hat, wie können wir schnellstmöglich, schnellst effektiv unser Rechtssystem wieder aufbauen, und, wie du schon ganz richtig sagst, waren da neben auch anderen Ländern, aus denen man sich Beratung geholt hat, wie zum Beispiel Australien, USA oder auch Großbritannien, vornehmlich Japan und Deutschland Vorbilder. Mit Japan ist natürlich aufgrund der Historie immer etwas schwierig, aber das japanische System basiert ja zu einem Großteil auch auf dem deutschen Rechtssystem.

So kam es, dass man sehr schnell erkannt hat, dass man mit dem deutschen Rechtssystem, was auch ein kodifiziertes Rechtssystem ist, anders, als jetzt zum Beispiel das anglo-amerikanische Rechtssystem-, in so einem Land, in dem es nun mal jetzt keine Rechtssprechungshistorie gibt-. Also, das anglo-amerikanische System basiert ja so auf Fällen, die man dann zum Beispiel wieder heranzieht. Und das gab es ja in China nicht, so dass man sich dann an dem japanischen beziehungsweise hauptsächlich an dem deutschen Rechtssystem schon stark orientiert hat. Das kann man zum Beispiel auch am Zivilgesetzbuch sehen, was jetzt im Jahr 2014 in China erlassen wurde. Das ähnelt in großen Bereichen sehr dem deutschen BGB.

Sabrina: Das bedeutet letztendlich, dass jetzt auch ich in China gegen meinen Nachbarn klagen könnte.

Vanessa: Ja, auf jeden Fall. Also, in China hat mittlerweile, was Gesetzgebung angeht, ein unglaublicher-, also mit einer unglaublichen Schnelligkeit und auch Effektivität wurde das vorangetrieben. Es gibt mittlerweile in fast allen Bereichen Gesetze und auch gute Gesetze, und die Gesetzgebungsvorhaben, die werden auch in den Fünfjahresplänen stetig fortgeschrieben. Also mittlerweile ist man auch wirklich schon in Bereichen-, dass man Online-Gerichte zum Beispiel hat, dass man im Bereich von Umweltrecht viele Maßnahmen gesetzgeberisch erlassen will, dass man das Sachenrecht angepasst hat, dass man aber auch jetzt sogar mit Weiterentwicklung Chinas hin zu einem Land, wo auch selbst viele Patente und auch viele Innovationen, ja auch im Land selbst nun herauskommen, im Bereich des geistigen Eigentums viel gesetzgeberisch tätig geworden ist. Also, da ist so eine Nachbarschaftsstreitigkeit auf jeden Fall mittlerweile gut lösbar.

Sabrina: Okay, sehr gut. Wobei ich da trotzdem noch sagen würde, dass Chinesen da wahrscheinlich eine andere Toleranz haben als die Deutschen.

Vanessa: Ja, das ist natürlich auch noch historisch bedingt. Was wir auch gesehen haben in dem Projekt, wo auch immer ein großes Interesse besteht, ist an dem ganzen Thema Mediation. Das liegt der chinesischen Gesellschaft doch etwas näher liegt als zum Beispiel hier bei uns in Deutschland. Dieser Gedanke, dass man seine Streitigkeiten auch erst mal so selbst, unter sich klären möchte, der ist im chinesischen Recht viel stärker vertreten als bei uns. In vielen Verfahren gibt es eine Zwangsmediation, die vorgeschaltet ist, bevor der Fall dann erst zum Gericht kommt. Was erstens aus der Gesellschaft selbst herauskommt, aber anderseits auch, weil die Gerichte mittlerweile sehr, sehr überlastet sind in China.

Sabrina: Okay, das heißt, es greifen auch sehr viele dann darauf zurück, dass es diese Gerichte jetzt gibt, und im Verhältnis zur Bevölkerung bräuchte man dann wahrscheinlich wahnsinnig viele Richter.

Vanessa: Genau. Also, es ist viel passiert. Gesetzgeberische Tätigkeit ist natürlich wichtig, aber es braucht natürlich auch Rechtsanwendung. Und es braucht natürlich auch eine starke, gut ausgebildete Richterschaft, die dem Bürger dann natürlich auch zu seiner Entscheidung verhelfen kann. Nach der Öffnung gab es erst mal keine gut ausgebildeten Richter, weil es keine Universitäten gab, es gab keine Ausbildungen.

Das ist auch ein zweiter Schwerpunkt von dem Projekt, in dem wir jetzt tätig sind, dass wir uns darauf konzentriert haben, bei der Schulung von Richtern und der Professionalisierung von Richtern einen Schwerpunkt zu setzen. Also, die erlassenen Gesetze sollten ja bestmöglich, so wie es in Deutschland zum Beispiel der Fall ist, auch einheitlich und vorhersehbar angewendet werden. Und dafür braucht es eine Justiz, die selbst sehr ausgebildet ist, und die den Herausforderungen halt auch einfach gewachsen ist.

Ist China ein Rechtsstaat?

Sabrina: Würdest du denn sagen, dass China bereits ein Rechtsstaat-, also, ich glaube, viele würden wiedersprechen, wenn wir sagen würden, China ist schon einer. Also, ich vermute, da gibt es doch noch ein bisschen was zu tun. An welchem Punkt sind wir denn da momentan?

Vanessa: Ja, also an dem Punkt sind wir natürlich ganz schnell an bei der Frage: Haben wir in China Rule of Law oder Rule by Law, ja? In China hat man immer ganz klar, sobald man von Rechtsstaatlichkeit spricht, den Zusatz: with Chinese Characteristics. Ja, also die Frage ist halt immer: Soll jetzt das Recht selbst herrschen, oder will die Partei durch das Recht herrschen, ja? Auch hier ist es natürlich wieder geschichtlich interessant, dass in China, im Gegensatz zu der westlichen Welt geschriebenes Recht zum Beispiel erstmal gar keine große Rolle gespielt hat. Auch das Verhalten des Einzelnen ist historisch eigentlich mehr durch so Verhaltensregeln geprägt worden, man nennt das Riten. Und gar nicht so sehr durch staatliche Gesetze.

Sabrina: Hast du ein Beispiel, welches das veranschaulicht?

Vanessa: Ja, das bekannteste Beispiel sind die konfuzianischen Verhaltensregeln. Also danach richtet man sich auch heute noch sehr stark. Das hat größere Bedeutung gehabt als jetzt die staatlichen Gesetze. Klassisches Recht gab es tatsächlich nur im Strafrecht.

Und heute, wenn man in China von einem Rechtsstaat spricht, dann sollte man immer im Hintergrund haben, dass das Ziel Chinas kein Rechtsstaat ist, wie wir ihn verstehen, also Gewaltenteilung oder Mitbestimmung des Volkes oder Menschenrechte, also die klassischen Elemente, die das westliche oder das deutsche Rechtssystem ausmachen. In China ist es eher das Ziel sozialen Frieden herzustellen. Und dafür braucht man eine einheitliche Rechtsanwendung und auch eine funktionsfähige Justiz.

Also, Hintergrund ist vielleicht auch, dass man gemerkt hat, dass unzufriedene Bürger lieber den Rechtsweg bestreiten sollten. Und das ist eine Motivation, warum man in China diese starken Reformen im Rechtsbereich angekurbelt hat und auch noch weiter ankurbelt. Und dafür soll die Justiz dann als starkes Gegengewicht eingesetzt werden.

Sabrina: Dient das dann eher dazu den Bürger klein zu halten? Oder tatsächlich, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich in jedem möglichen Fall juristische Hilfe zu holen, beziehungsweise durchzusetzen?

Vanessa: Also, ich glaube auch hier muss man wieder unterscheiden. Beim Großteil der Fälle, um die es geht, die Masse, die jetzt zum Beispiel Rechtsangelegenheiten einklagt oder Streitigkeiten hat-, in diesen Fällen wird es keinen großen Unterschied machen.

Es gibt unwahrscheinlich viele Gerichte, die Verfahren werden teilweise innerhalb von sieben Tagen bearbeitet, da kann Deutschland nur mit offenem Mund zuschauen. In diesen Fällen ist das für den Bürger eine große Erleichterung, und auch ein großer Service. Also, wir sprechen hier immer von dem Aufbau eines Systems von Rechtsdienstleistungen, was China hier geschaffen hat, und auch wirklich einmalig geschaffen hat, in unglaublich kurzer Zeit.

Eine Grenze ist aber dann erreicht, wenn es um einen Prozess geht, wo staatliche Interessen oder politische Belange berührt sind, also zum Beispiel Korruptionsverfahren gegen Funktionäre oder auch Strafverfahren gegen Dissidenten, Menschenrechtsanwälte, kritische Verleger oder Journalisten. In diesen Fällen ist natürlich klar, dass dann politische Erwägungen diese Verfahren beeinflussen werden.

Sabrina: Okay, also man muss abwägen. Es ist quasi bis zu einem gewissen Punkt erreicht, aber nicht komplett. Und komplett wird auch nicht angestrebt.

Vanessa: Es wird auf gar keinen Fall angestrebt. Das Ende von Rule of Law ist ganz klar bei der Partei erreicht. Es wird auch ganz klar gesagt: Für die Partei gilt Rule of Law nicht.

Rechtsdialog und Austausch von Richtern zwischen China und Deutschland

Sabrina: Okay. Wie hat sich denn der Austausch über die letzten Jahre mit China geändert? Also, haben die für sich das System oder die Entwicklung des Systems mehr oder weniger abgeschlossen, oder wird nach wie vor auch auf Deutschland geschaut? Ist China tatsächlich weiterhin am Austausch interessiert?

Vanessa: Es hat sich natürlich verändert, was die Instrumente oder auch das ganz Technische, gesetzgeberische angeht, das ist mittlerweile auch in China sehr etabliert. Wo Deutschland immer noch sehr viel mitarbeitet, ist zum Beispiel im Bereich der Ausbildung von Richtern. In dem Bereich arbeitet auch das Projekt, in dem ich mitgearbeitet habe. Und dort finden jedes Jahr Trainingskurse für angehende Richter statt und dort wird auch auf Deutschland zurückgeschaut. Wir haben in Deutschland ein sehr gutes System der Methodenlehre, also Subsumtionstechnik und da schaut man genau an: Wie funktioniert das Gesetz, was hat das für einen Hintergrund, historisch, Sinn und Zweck, gesetzgeberisch: Wo steht das im Gesetz? Ja, und diese Technik versucht man den Richtern auch zu vermitteln. Das ist auch nach meiner Einschätzung dringend notwendig. Auf einem dieser Richteraustausche hat mir ein chinesischer Richter beispielsweise auf die Frage, wie er denn, seine Urteile findet gesagt, dass er sich erst überlegt, was seine Meinung nach gerecht ist und dann schaut er, wo er das im Gesetz nachweisen kann. Sowas sollte nicht sein.

Sabrina: Das heißt, bei diesem Richteraustausch geht es dann darum, dass chinesische Richter nach Deutschland kommen. Und geht das dann auch anders herum, also lernt man auch beidseitig, oder ist das einseitig?

Vanessa: Genau. Also den Richteraustausch, den gibt es seit dem Jahr 2011, der ist ein gemeinschaftliches Projekt zwischen der GIZ, der Robert Bosch Stiftung und auch dem-, wie schon genannten Ausbildungs- oder Schulungseinheit des Nationalen Volkskongresses. Die Idee, die dahinter steht, ist tatsächlich, dass auf bis zu zehntägigen Reisen Richter von den oberen Gerichten aus China, aus den verschiedene Provinzen und auch den Landgerichten daran teilnehmen und sich fachlich, inhaltlich austauschen können, aber auch ganz klar ist: Hauptanliegen dieses Austausches ist die Völkerverständigung. Weil man erkannt hat, dass man jetzt Reformbewegungen nicht nur immer von oben herab überstülpen möchte, sondern die Idee dahinter ist, dass Reformbewegungen auch aus der Richterschaft selbst heraus vorangetrieben werden sollen. Dafür bietet sich so ein Programm natürlich wunderbar an, wo man sich natürlich einerseits fachlich austauschen kann und gegenseitig an Gerichtsterminen teilnehmen kann.

Während dieser zehn Tage wird aber immer zusammen Mittag gegessen, Abend gegessen. Man schließt Freundschaften, man tauscht sich auch außerhalb des Fachlichen aus. Und, ja, die Hoffnung oder die Idee ist natürlich, dass man vielleicht dem einen oder anderen chinesischen Kollegen etwas mitgeben kann, was jetzt im Sinne von den deutschen wichtigen, tragenden Säulen eines Rechtsstaats, wie zum Beispiel auch die Unabhängigkeit der Richter wichtig ist und worauf die deutsche Richterschaft auch stolz ist. Ja, wenn chinesische Kollegen das hier vor Ort sehen, dann ist das einfach nochmal was anderes als, wenn man das in einem Buch gelesen hat.

Die Unabhängigkeit chinesischer Richter

Sabrina: Wie abhängig oder unabhängig sind denn Richter? Du hast vorher erzählt, dass manche Sachen einfach politisch sind, oder zur Partei gehören und dann anders behandelt werden. Da könnte ich mir jetzt auch vorstellen, dass in gewissen Fällen der Regierung eigentlich total egal ist, was da die Richter machen, aber in anderen Bereichen dann auch gar nicht mehr.

Vanessa: Vorher war es immer so, dass die Positionen der Richter von hohen Verwaltungsbeamten torpediert wurden, oder dass eine starke Verwaltung letztendlich mehr zu sagen hatte als ein Richter, völlig unvorstellbar in Deutschland. Es ist so, dass die fachlichen Anforderungen zum Zugang zum Richteramt immer weiter spezialisiert und professionalisiert wurden. Damit wird verhindert, dass zum Beispiel jemand, der nur politisch sehr korrekt ist, Richter werden kann, ohne auch fachliche Voraussetzungen zu erfüllen. Das war bis vor einigen Jahren noch nicht so. Damals reichte ein einfacher Hochschulabschluss, um Richter zu werden.

Sabrina: Heißt das auch, dass Richter Parteimitglieder sind?

Vanessa: Ja, also das in der Regel so. Ich habe jetzt leider keine Zahlen, aber mich würde es nicht wundern, wenn es an die 100 Prozent sind, die Parteimitglieder sind. Was man auch noch ganz klar sagen muss, was jetzt die Professionalisierung der Ausbildung angeht, als dies geändert wurde, wurde zeitgleich eingeführt, dass bei der Auswahl der Richter ein Beamtenexamen nachzuweisen ist. Und was verbirgt sich dahinter? Persönliche Eignung und politische Zuverlässigkeit.

Sabrina: Heißt das letztendlich auch, dass ein Richter eine bestimmte Hierarchie in der Verwaltungsebene hat? Das wäre jetzt meine Vermutung. Und was da dann natürlich auch mit einhergeht, ist die Frage: Wie lang ist denn ein Richter an seinem gleichen Gericht tatsächlich tätig? Also, wechselt man da genauso schnell durch wie in anderen Verwaltungseinheiten, wenn man was erreichen will? Oder ist das da ein bisschen anders?

Vanessa: Nee, also was jetzt die Besetzung oder die Aufstiegsmöglichkeiten angeht, ist es schon so, dass man zunächst so drei bis fünf Jahre erst mal an einem unteren Gericht tätig ist, und dann muss man, wie in Deutschland auch, sich die Karriereleiter langsam erarbeiten. Ja, es ist auch so, ähnlich wie bei uns, dass es schwieriger ist, Richter zu finden, die bereit sind, in den Provinzen an die Gerichte zu gehen. Da sind dann die Karrieremöglichkeiten natürlich noch mal etwas einfacher, als wenn man in Peking am obersten Gericht tätig werden möchte.

Was denken chinesisch Richter über das deutsche Rechtssystem?

Sabrina: Okay, was waren denn so deine Erfahrungen, wenn dieser Richteraustausch auch stattfindet. Also was halten denn die chinesischen Richter so von den deutschen und auch anders herum?

Vanessa: Die chinesischen Richter sind nach wie vor noch sehr begeistert vom deutschen Rechtssystem, auch, was die Professionalität der deutschen Justiz angeht: Die Effektivität, die ganze Funktionalität des deutschen Gerichtssystems. Man sieht Deutschland auf jeden Fall noch als großes Vorbild, und Deutschland für China auch immer noch das Land der großen Marken, der Exporte, der Dichter und Denker.

Man merkt, dass viele das deutsche Rechtssystem sehr, sehr gut kenne. Wahrscheinlich besser als viele Deutsche. Die kommen sehr gut vorbereitet hierher. Man sieht das BGB als Exportschlager und man hat auf jeden Fall großen Respekt. Man schätzt das Rechtssystem auch sehr. Wenn es dann halt wieder zu diesen Themen kommt, wie Gewaltenteilung, Menschenrechte und Unabhängigkeit, dann ist man natürlich wieder ganz schnell wieder bei dem Zusatz: Ja, wir haben unser Rechtssystem, aber „with Chinese Characteristics“. Diesen Bereich klammert man dann aus.

Künstliche Intelligenz und Digitalisierung im chinesischen Rechtssystem

Und umgekehrt, die Deutschen staunen immer unglaublich, wenn sie sehen, wie weit China im Bereich vor allem der Digitalisierung ist. In China ist die digitale Akte mittlerweile Standard. Mittlerweile ist es soweit, dass man per WeChat den Stand eines Gerichtsverfahrens einsehen kann. Man kann Klagen per WeChat einreichen. Es gibt ein Online-Gericht. Es gibt Online-Mediation. Papier gibt es sozusagen fast gar nicht mehr. Und wenn man sieht, wie schwer und wie langsam dieser Prozess in Deutschland voranschreitet, dann sind die deutschen Kollegen natürlich immer absolut beeindruckt.

Gleichzeitig natürlich aber auch immer sehr, sehr skeptisch, weil, wie in allen Bereichen und gerade im Rechtsbereich es natürlich sehr sensibel ist. Wenn man sich da so stark auf KI und Digitalisierung verlässt. Also, es gibt ja auch die Möglichkeit, vorformulierte Urteile dann zu fällen, und da ist bei den Deutschen dann immer sehr schnell auch eine Grenze erreicht.

Sabrina: Okay, man möchte sich noch nicht so sehr auf die künstliche Intelligenz verlassen, was vielleicht auch nicht ganz schlecht ist.

Sabrina: Aber, da sieht man doch trotzdem, dass es da tatsächlich noch Punkte gibt, die man dann aus China lernen kann und bei uns auf das System übertragen?

Vanessa: Ja, also schon, was diese Effektivität und halt auch einfach diese Umsetzungsschnelle angeht, ja, das ist natürlich was. Das liegt aber natürlich auch wieder daran, dass das ein Einparteiensystem ist, was Reformen mit einem Wimpernschlag umsetzen kann.

Also die deutschen Richter sind immer sehr beeindruckt, was China erreicht hat, und auch welche Dienstleistungen da mittlerweile möglich sind für die Bürger. Wenn es aber an das Herz des Rechtsstaates geht, dann muss man jedoch sagen, dass die deutsche Richterschaft dann wirklich wieder weiß, was den deutschen Rechtsstaat ausmacht.

Sabrina: Ich hatte das im Austausch mit chinesischen Unternehmen auch schon, die bewusst Deutschland als Standort außerhalb Chinas wählen, weil sie einfach sagen: Ja, hier ist klar, wie das Gesetz funktioniert. Da wissen sie, welche Rechte sie haben. Das ist absolut transparent und durchschaubar. Und dass das dann auch die Standortwahl beeinflusst. Das hat mich sehr beeindruckt, dass chinesische Unternehmen sowas sagen.

Vanessa: Wenn mal halt sieht, wie wichtig China mittlerweile ist, und man dort über die Jahre das deutsche Recht als Standort aufgebaut hat, ist das natürlich für ein Exportland wie Deutschland ein super Asset.

Warum leistet Deutschland noch Entwicklungsarbeit in China?

Sabrina: Ja. Ich habe jetzt noch eine abschließende Frage für dich: China ist ja mittlerweile eine große Wirtschaftsmacht. China fördert auch selbst andere Länder, hat selber beispielsweise Entwicklungsprogramme oder Tätigkeiten wie beispielsweise in Afrika. Wie lässt es sich begründen, dass Deutschland nach wie vor Entwicklungsarbeit in China leistet?

Vanessa: Man kann China tatsächlich formal nicht mehr als Entwicklungsland bezeichnen. Die Arbeit der GIZ ist nicht mehr unter dem Titel Entwicklungszusammenarbeit bekannt, sondern man nennt es internationale Zusammenarbeit. Und ja, es gibt dennoch einige Bereiche, in denen China tatsächlich auch noch Entwicklungsbedarf hat.

Man sieht das ganz gut im Umweltbereich oder auch der Urbanisierung. Und beim Thema Rechtsstaat sind wir in einem sehr sensiblen Bereich. Meine persönliche Meinung ist, man kann das natürlich immer sehr stark, sehr schnell kritisieren. Aber gerade, wenn man sich anschaut, wie wichtig China wirtschaftlich ist, und wie wichtig es noch werden wird, dann ist es für uns als Deutsche unglaublich wichtig, dass wir weiterhin mit China im Dialog sind. Und auch wenn Verfahren zu Menschenrechtsverletzungen stattfinden, dann sofort sagen: Okay, das bringt alles nichts, wir stellen das ein. Ja, ich denke, es ist wichtig, dass man im Dialog bleibt.

Als ich noch in dem Projekt in China gearbeitet habe (jetzt arbeite ich für ein Rechtsprojekt in Afrika), hatte ich versucht eine Dreieckskooperation zu initiieren. Ja, also sozusagen Entwicklungszusammenarbeit in Afrika mit Deutschland und China, weil: Auch da ist meine persönliche Meinung wieder, dass es nichts bringt, einfach nur das zu verurteilen, was China in Afrika macht. Das kann man jetzt gut oder schlecht finden. Gerade so Stichpunkte wie, hier: Ressourcen, die von China abgeführt werden oder Neokolonialismus. Oder auch, wenn man sich die Seidenstraßeninitiative anschaut.

Es ist nun mal einfach so, dass diese Prozesse nicht einfach gestoppt werden, weil Europa das irgendwie unschön findet. Also, entweder wir als Europäer versuchen dort einen Weg zu finden, wie wir vielleicht dort mitarbeiten können, wie wir dann vielleicht auch unsere Werte, ich sag mal über das Dreieck einbringen können, oder wir schauen halt einfach weiterhin zu. Ob einem das jetzt gefällt oder nicht: Ich glaube, es ist wichtig, dass man dort in den Dialog geht und mit China kooperiert.

Sabrina: Also lieber aktiv mitgestalten als sich zurücklehnen und zu gucken, was China so in der Welt treibt. Sehr schön. Das waren auch ganz schöne Schlussworte. Vielen Dank, Vanessa, dass du im Podcast mitgemacht hast. War sehr schön, dich dabei gehabt zu haben.

Vanessa: Ja, vielen Dank, dass ich dabei sein durfte. Mir hat es auch großen Spaß gemacht.